Donnerstag, 3. November 2011

Spätgotisches Tapisserie Fragment


Der historisch bedeutende, oberrheinische, spätgotische Bildteppich kann in die Zeit um 1480 - 1490 datiert werden. Er ist ein Teilstück aus einem längeren Streifen mit mehreren Szenen. Diese Rücklaken genannten Textilien wurden als Auftragsarbeiten für Adlige oder wohlhabende Bürger hergestellt und über den Sitzbänken aufgehängt. Die oberrheinischen Bildteppiche wurden in kleinen Werkstätten im Gebiet um Basel und Straßburg gewebt. Wegen der stilistischen Ähnlichkeiten mit einem Bildteppich im Kloster Muri-Gries in Bozen, der aus einer Baseler Werkstatt stammt, nehmen wir an, daß unsere Tapisserie gleichfalls in Basel entstand.

Der Teppich zeigt auf blauem Untergrund eine Hinrichtung mit Zuschauern. Die Hinrichtungsszene, die möglicherweise auf einer alttestamentarischen Begebenheit beruht, ist in ihrer Ikonographie nicht eindeutig genug, um sie einer bestimmten Bibelstelle zuweisen zu können. Am unteren Bildrand liegt auf dem Boden ausgestreckt ein entkleideter Mann. Er ist auf grausame Weise mit Lederriemen an in den Boden gerammte Pflöcke gefesselt und damit bewegungsunfähig. Ein über ihm stehender Richtknecht in mittelalterlicher Tracht mit roten Hosen, blauem Wams und einem Zweihandschwert an der Hüfte erhebt mit beiden Händen ein Speichenrad, mit dem er auf den Delinquenten einschlägt, der bereits aus dem Mund blutet. Die Drastik der Darstellung entspricht mittelalterlicher Erzählweise, die anschaulich und oft in plakativem Stil schilderte. In der linken Bildhälfte stehen vier Personen. Die zentrale Figur der Gruppe ist ein König in Richterpose: er trägt eine Krone und einen hermelinverbrämten Mantel, hält in der rechten Hand ein langes Szepter mit einer aufgesetzten Lilie und weist mit der linken Hand auf den Todeskandidaten hin. Die neben dem Richter stehende Frau mit einer gefältelten Haube (Krusel) auf dem Kopf blickt ihn an und hat die linke Hand in einer Entschuldungsgeste vor die Brust erhoben. Ein Mann am oberen linken Bildrand ist nur Zuschauer, ein weiterer Mann, in einem von Holzlatten eingezäunten Pferch, schlägt mit einem Knüppel auf einen Hund ein, der ihn anfällt. Am rechten Bildrand ist ein großer Baum dargestellt, davor steht ein Pferd, von dem nur Kopf, Hals und Brust zu sehen sind, da der Bildteppich hier beschnitten ist.

Auf der Suche nach einer Interpretation der Hinrichtungsszene muß zunächst betont werden, daß die Todesstrafe durch Räderung für Straßendiebe und Mörder vorgesehen war. Insofern wäre es die Funktion des Bildteppichs gewesen, von solchen Straftaten abzuschrecken. Es scheint aber auch denkbar, daß hier ein Ehebrecher oder Vergewaltiger hingerichtet wird. Nach den Vorschriften des alten Testaments stand auf Ehebruch die Todesstrafe. Hatte der Ehebruch „auf dem Felde“ stattgefunden, so galt für die Frau die Unschuldsvermutung und nur der Mann wurde bestraft. Allerdings sollte die Strafe durch Steinigung vollzogen werden. Der genaue historische Bezug der hier dargestellten Szene wird sich nicht mehr ermitteln lassen. Die moralisiernde Botschaft des Bildes paßt durchaus in den sozialen Kontext des Spätmittelalters, einer Phase des Umbruchs und der lockeren Sitten, was von vielen Zeitgenossen damals beklagt wurde.

Die Tapisserie ist fein und sorgfältig gewebt, für manche Details wurde Seide verwendet. Am oberen Rand ist rechts ein kleines Stück der originalen Webkante erhalten, sonst ist die auf schwarzes Tuch aufgenähte Tapisserie ringsum beschnitten.